(pág. 358)
Fast in jeder Nummer unseres Sonntagsblattes finden
wir Bilder, die 4 oder 5 Generationen einer Familie zeigen. Ich möchte Dir,
lieber Leser, gerne durch das Bild dreier Häuser 3 Generationen vor Augen
führen.
Leider ist das aber nicht möglich,
obwohl dieselben alle auf dem Grund und Boden des gleichen Besitzers stehen. So
muss ich Dich darum bitten, im Geiste mit mir zu kommen und dem zuzuhören, was
diese Häuser uns zu sagen haben. Vielleicht lächelst Du über diese Zumutung,
weil Du Dir nicht vorstellen kannst, dass ein Haus Dir etwas sagen könnte. Aber
überlege Dir doch einmal allen Ernstes, ob nicht alle Dinge um uns herum mehr
zum Ausdruck bringen, als wir mit den Augen wahrzunehmen vermögen. Nicht nur
der Mensch, sondern jedes Ding hat seine Sprache und durch Stillesein und
Zuhören erfahren wir eine wertvolle innere Bereicherung. Erst wenn wir die
Geschichte eines Menschen oder eines Gegenstandes kennen, erkennen wir auch
seinen Wert. Diese Erkenntnis aber erweckt in uns die Ehrfurcht vor Menschen
und Dingen und von ihr hat der grosse Dichter Goethe gesagt, dass wir sie nicht
mitbringen auf diese Welt, dass sie aber alles ist, worauf es ankommt, damit
der Mensch nach allen Seiten ein Mensch ist. Und er fährt fort: Was
wäre aus mir geworden, wenn ich nicht gelernt hätte, Respekt vor anderen zu
haben. Aus Respekt erwächst Ehrfurcht, aus der Ehrfurcht die rechte
Gottesfurcht.
(pág. 360)
Ehrfürchtige Menschen aber sind
beschenkte Menschen und darum fröhliche und dankbare Menschen. Und nun lasst
uns hinhören auf das, was drei Häuser uns zu erzählen haben.
1. Haus: Schaut mich an! Ich bin das
älteste Haus hier weit und breit, und ich existierte schon, als man diese
Gemeinde gründete, die jetzt ihr 100jähriges Bestehen feiert.
2. Haus: Na, dass du recht alt bist,
das brauchst du uns nicht zu erzählen, das sieht man dir von weitem an.
3. Haus: Vergleich nur eimal deine
Aussenwände mit den meinen! Wie fein weiss und sauber stehe ich da, wogegen bei
dir überall der Putz abbröckelt, das man die klobigen Sandsteine sehen kann.
1. Haus: Du hast recht, neues Haus,
meine Wände sind alles andere als schön. Die Sandsteine wurden damals vor mehr
als 100 Jahren von meinem Erbauer in mühseliger Arbeit behauen und der Putz,
eine Mischung aus Sand, Kalk und Pferdehaar, bewährte sich nicht. Meine Mauern
aber und die starken Balken trotzen auch heute noch jedem Sturm. Und wer von
Euch beiden hat eine schönere Eingangstür als ich? Stellt euch einmal vor,
unter welchen Verhältnissen sie hergestellt wurde und Staunen und Rührung erfüllen
euch, dass die Menschen damals soviel Sinn und Zeit für das Schöne hatten, als
sie sich im Kampf gegen den Urwald und viele Gefahren eine neue Heimat schaffen
mussten. Ich sollte ihnen mehr geben als Schutz vor wilden Tieren, vor Unwetter
und fremden Klimaeinflüssen; ich sollte ihr Heim sein.
2. Haus: Fremde Klimaeinflüsse? Wo
kamen die Menschen denn her, die dich vor so langer Zeit erbauten?
1. Haus: Mein Erbauer, ein Zimmermann,
wanderte vor Mitte des vorigen Jahrhunderts aus dem Hunsrück aus. Während der
Überfahrt lernte er eine Landsmännin kennen, die mit ihren Eltern und einem
Bruder nach Brasilien wollte und verlobte sich mit ihr. Nach seiner Ankunft am
Pass (São Leopoldo) wurde das junge Ehepaar erst einmal für längere Zeit
getrennt. Während die Frauen im Einwandererhaus in Feitoria Velha untergebracht
waren, nahmen die Männer des Auswandererschubs schon den Kampf mit dem Urwald
auf. Ein Teil von ihnen zog den Rio dos Sinos aufwärts, über die Mündung des
Rio Santa Maria hinaus zur Kolonie Santa Maria do Mundo Novo. Diese Kolonie war
im Jahre 1846 gegründet worden, als der Kaufmann Tristão Monteiro ein von der
Kolonie São Leopoldo erworbenes Stück Land in Lose aufteilte, die zu 300
Milreis mit langer Zahlungsfrist verkauft wurden. Unter ihnen befand sich auch
der junge Zimmermann. Eine Überschwemmung verursachte, dass er seine junge Frau
erst zu sich holen konnte, als sich bereits das erste Söhnchen eingestellt
hatte. Zu diesem Bübchen kamen dann im Laufe der Jahre 5 Brüder und 3
Schwestern hinzu, meine Zim- mer füllten sich mit Kinderweinen und - lachen und
wurden bald zu eng, da ja die Eltern der jungen Frau und deren Bruder auch hier
eingezogen waren. Mein Herr liess Hobel und Säge ruhen und arbeitete auf der
Plantage. Der Bruder seiner Frau suchte die Umgebung nach Halbedelsteinen ab,
die er zum Schleifen in die alte Heimat, den Hunsrück sandte, der wegen seiner
Schleifereien bekannt und berühmt ist. Dann starben die alten Eltern und fanden
ihre Ruhestätte auf dem Friedhof gegenüber der 1863 erbauten Kirche, wo später
die Gemeinde eine Schule errichtete.
3. Haus: Du redest von einer Kolonie
Santa Maria do Mundo Novo, altes Haus, soviel ich weiss, heisst jedoch dieser
Ort hier Igrejinha?
2. Haus: Da kann ich dir Auskunft
geben, weil der Name zu meiner Jugendzeit geändert wurde. Die neu gegründete
Kolonie war eingeteilt worden in die Obere Santa Maria (Lappland), Mittlere
Santa Maria (Judengasse) und Untere Santa Maria (Schlechtes Viertel). Als dann
nach dem 1. Weltkrieg die Eisen- bahnlinie von Neu Hamburg nach Canela gebaut
wurde, sollte dieser Ort einen neuen Namen erhalten. Man wählte den Namen
Igrejinha, wohl weil der Kirchturm in dieser, in einem Kranz von Bergen
eingebetteten Ortschaft, sofort den Blick auf sich lenkt.
3. Haus: Wenn ihr so vieles aus der
Entstehung der Ortschaft wisst, dann könnt ihr doch (pág. 362) auch
sicherlich aus der Gründungszeit der Evangelischen Gemeinde erzählen ?
1. Haus: Gewiss kann ich das. Habe ich
es doch erlebt, wie die Einwanderer, die oft genug aus ihrer Bibel und ihrem
Gesangbuch Kraft für den Kampf ums Leben und - nicht zu vergessengegen das
Heimweh nach ihrem schönen Hunsrück schöpften, sich bald gerne zu einer
Gemeinde zusammenges- chlossen hätten. Doch wo war der Seelsorger, der sie
betreuen sollte? Er musste von Campo Bom oder Hamburger Berg kommen und konnte
auf diese Weise seinen Dienst nur unregelmässig und selten tun. So ist es zu
verstehen, dass einige Gemeindeglieder sich in ihrer näheren Umgebung einen
Pfarrer suchten und der fand sich in einem Schneider, der zugleich Lehrer
war. Er hat sich redlich bemüht, seiner Gemeinde zu dienen und ich weiss, dass
er sich für seine Predigten draussen in der Plantage vorbereitete, wo er auf
einem Baumstumpf stehend zuerst den Milhostauden vortrug, was er am
Sonntagmorgen seinen Gemeindegliedern predigen wollte. Er legte es nicht darauf
an, den Menschen mit schweren und gewählten Sätzen zu imponieren, sondern
wandte Bilder und Beispiele an, die allen vertraut waren. Als ein von
Deutschland entsandter richtiger Pfarrer in den Bezirk Santa Maria kam, da
musste der selbstgemachte Pfarrer nach heissem Kampf seiner Anhänger gegen
die andere Partei zurücktreten. Als deutliches Zeichen seiner Amtsenthebung
warf man auch das Schemelchen, auf dem er wegen seiner kleinen Statur während
der Predigt zu stehen pflegte, im hohen Bogen von der Kanzel. Erst nach län-
geren Jahren zogen dann besonders durch das geschickte Vorgehen und treuen
Dienst von P. Roos und P. Dietschi allmählich wieder Eintracht und Friede in diese
Gemeinde ein.
2. Haus: Na, das waren Zeiten! Sowas
habe ich nicht mehr zu erleben brauchen. Ich erinnere mich nur, dass wir es
schwer hatten während der beiden Weltkriege, als die deutsche Sprache verboten
war und weder die Pfarrer noch die Gemeindeglieder die Landessprache ganz
beherrschten.
3. Haus: Wie alt bist du denn schon, 2.
Haus ?
2. Haus: Ich wurde im Jahre 1914, mit
dem der erste Welt- krieg begann, erbaut. Mein Erbauer war der jüngste Sohn aus
diesem ehrwürdigen Nachbarhaus. Er brach die Steine zu meinen Mauern in seinem
eigenen Steinbruch. Die Bretter kaufte er in Taquara, das Dutzend zu 14
Milreis. Ich kostete mit meinen 6 grossen Räumen den heute lächerlich geringen
Betrag von 1 : 35 $ 000.
3. Haus: Da habe ich aber eine ganze
Stange Geld mehr gekostet, was mit der Inflation zusammenhängen mag, von der
ich immer soviel reden höre. Ich bin von dem ältesten Sohn deines Erbauers,
Haus 2, gebaut worden, dem wir heute alle drei gehören. Das war im Jahre 1946/47.
Ich bin - wenn ich mich so mit euch beiden vergleiche doch ein viel
vornehmeres Haus! Bei mir gab es gleich eine Wasserleitung, und elektrisches
Licht, wir haben ein Radio und einen Kühlschrank já wir könnten sogar ein
Fernsehgerät haben, wenn wir nur wollten. Das habt ihr alle beide doch nicht
gekannt, nicht wahr? Habt ihr denn wenigstens ein wenig Freude und Vergnügen in
Euren Mauern gehabt, wenn es bei euch schon keine Bequemlichkeit gab?
1. Haus: Ich habe wohl mehr Schweres
als Frohes erlebt, das stimmt. Da war neben den schon erwähnten Anfangs-
schwierigkeiten noch der Überfall der Maragatos (1893 95) zu überstehen. Ich
habe es gesehen, wie man das Vieh im Wald versteckte, damit es nicht von den
durchziehenden Banden mitgenommen wurde, wie die Männer einen Selbstschutz
gründe- ten und draussen wachten, während die Frauen zu Hause oft ganze Nächte
hindurch mit dem Jagdgewehr auf den Knien am Fenster sassen, wo sie durch einen
Spalt beobachten konnten, ob sich etwa einer der Banditen näherte. Ich erlebte
den Muckeraufstand, der sich beim Leonerhof (Sapiranga) abspielte. Ich sah zu,
wenn Särge aus meiner Tür über die heute so ausgetretenen Stufen hinabgetragen
wurden und hörte das verzweifelte Weinen der ältesten Tochter meines Herrn, als
sie ihren jungen Ehegatten da unten über die Strasse zum Friedhof brachte fast
ohne Hilfe und Beteiligung, da er an den gefähr-lichen Pocken gestorben war und
jeder die Ansteckung fürchtete. Aber meine Bewohner und ich erlebten auch viel
Freude. Die Kinder wuchsen heran, die Plantagen vergrösserten sich und brachten
gute Ernte. Auch Vergnügen und Zerstreuung wusste man sich zu verschaffen. Da
wurden Gesangvereine und Schützenvereine gegründet und bald entstand ein
Tanzsaal, wo man sich versammeln und das Tanzbein schwingen konnte. Zwar war
das Tanzen (pág. 364) erschwert dadurch, dass nicht jeder ein Paar
Schuhe sein Eigen nannte und das man die Lederschlappen beim Tanzen so leicht
verlor, aber man half sich, indem man die Schlappen am Fusse festband oder sie
einfach an der Seite unter die Bank stellte und barfuss tanzte. Ja, ich sah,
dass sie sogar die Mode mitmachten! Als die Reifröcke modern wurden und man den
nötigen Unterbau aus Reifen und Draht nicht dazu haben konnte, fertigte man
sich ein solches Gestell aus gespaltenem Bambus oder Palmreiser an. Es hatte
natürlich den Nachteil, dass man es nicht zusammenlegen konnte. Da ist es denn
einmal geschehen, dass ein kleines Mädchen, das sich auch auf der Tanz-fläche
vergnügte, und dabei zu Fall gekommen war, unter eine dieser Glocken geriet und
sich erst nach verzweifelten Anstrengungen und nachdem es den Beinen der
Reifrockdame arg zugesetzt hatte, wieder ans Tageslicht steigen konnte.
2. Haus: Das sind ja ganz lustige
Zeiten gewesen trotz aller Schwierigkeiten! Auch ich besinne mich auf manch
harmloses Vergnügen in meinen Wänden und um mich herum. Fünf junge Menschen
bewohnten mich mit ihren Eltern, sie haben schwer arbeiten müssen, aber auch
manchen Scherz und Schabernack mit ihren Freunden getrieben. Da wurden sämtliche
Tore ausgehängt des Nachts und an ganz anderen Stellen, wo sie gar nicht
hinpassten, wieder angebracht, oder der Wagen eines Kolonisten wurde bis zur
nächsten Schmiede geschoben, wo der Schmied ihn am Morgen zu seinem Erstaunen
vorfand und trotz eifrigen Suchens und Klopfens keinen Fehler entdecken konnte.
Die Burschen gingen zum Fischfang oder auf die Jagd und die Mädchen trafen sich
zum Handarbeiten und Erzählen und rieben sich vor einem Ball die Wangen mit
rauhen Feigenblättern, dass sie schön rot wurden. Man kannte keine Hetze. Es
gab keine Autounfälle, keine Flugzeuge dröhnten über unseren Köpfen und kein
Radiolärm aus den Häusern. Dafür hatte man aber Zeit, sich am Abend vor der
Haustür zusammenzusetzen und zu singen. Ich glaube, dass weder heute noch vor
hundert Jahren die Zeiten besser waren als in meiner Jugendzeit.
1. Haus: O, auch meine Jugendzeit war
schön, gerade weil sie so schwer war.
3. Haus: Ihr könnt mir sagen, was ihr
wollt: schöner als jetzt waren sie nicht! Schon allein, weil alles so modern
und so bequem ist jetzt. Alles geht elektrisch, man braucht sich nicht
anzustrengen. Die Entfernungen sind zusammengeschmolzen, seit man mit dem
Flugzeug reisen kann ja, in wenigen Jahren werden die Menschen auf den Mond
fliegen können. Durch das Fernsehen haben wir Kino zu Hause, Konzert durch
unseren Plattenspieler und den Gottesdienst hören wir uns durchs Radio an. Der
Mensch beherrscht alles und kann alles, und er schafft auch seine Häuser immer
vollkommener und vornehmer.
1. Haus: Mein liebes junges Haus, du
sprichst wie du es verstehst in deiner Unerfahrenheit! Wenn man soviel erlebt
und gesehen hat wie ich, dann weiss man, dass der Mensch auch heute noch nicht
alles kann und alles beherrscht, dass er auch keine besseren Zeiten schaffen kann.
Was hat er denn gewonnen durch seine Erfindungen? Hat er etwa mehr Zeit,
seitdem alles elektrisch betrieben wird? Ist denn der Mensch glücklicher
geworden durch seine Erfindungen? Vernichtet er im Kriege nicht tausende der
schönen Häuser wieder, die er gebaut? Und was nützt es ihm, zum Mond zu
gelangen, solange er mit den Problemen auf unserer Erde nicht fertig werden
kann? Jedes Jahr- hundert birgt Schönes und Schweres in sich, bringt gute und
böse Menschen hervor, ist ein Werden und Vergehen. Gut und vollkommen,
allmächtig und allwissend ist allein der Herr der Zeit, der ewige Gott, der die
Welt geschaffen hat. Der Mensch sollte sich Gottes Schöpfung zunutze machen und
sich daran freuen, sein Fehler ist, dass er sie korrigieren will.
Aber nun lasst uns unser Gespräch
beenden, denn unsere Bewohner wollen sich zur Ruhe begeben. Wir aber wollen
über ihrem Schlaf wachen und unseren Zweck erfüllen, indem wir ihnen Tag und
Nacht die Geborgenheit geben, aus der sie Kraft zum Lebenskampf schöpfen.
C. Koetz