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Ein Haus und seine Nachkommen

Fast in jeder Nummer unseres Sonntagsblattes finden wir Bilder, die 4 oder 5 Generationen einer Familie zeigen. Ich möchte Dir, lieber Leser, gerne durch das Bild dreier Häuser 3 Generationen vor Augen führen.

Leider ist das aber nicht möglich, obwohl dieselben alle auf dem Grund und Boden des gleichen Besitzers stehen. So muss ich Dich darum bitten, im Geiste mit mir zu kommen und dem zuzuhören, was diese Häuser uns zu sagen haben. Vielleicht lächelst Du über diese Zumutung, weil Du Dir nicht vorstellen kannst, dass ein Haus Dir etwas sagen könnte. Aber überlege Dir doch einmal allen Ernstes, ob nicht alle Dinge um uns herum mehr zum Ausdruck bringen, als wir mit den Augen wahrzunehmen vermögen. Nicht nur der Mensch, sondern jedes Ding hat seine Sprache und durch Stillesein und Zuhören erfahren wir eine wertvolle innere Bereicherung. Erst wenn wir die Geschichte eines Menschen oder eines Gegenstandes kennen, erkennen wir auch seinen Wert. Diese Erkenntnis aber erweckt in uns die Ehrfurcht vor Menschen und Dingen und von ihr hat der grosse Dichter Goethe gesagt, dass wir sie nicht mitbringen auf diese Welt, dass sie aber alles ist, worauf es ankommt, “damit der Mensch nach allen Seiten ein Mensch ist”. Und er fährt fort: “Was wäre aus mir geworden, wenn ich nicht gelernt hätte, Respekt vor anderen zu haben.” Aus Respekt erwächst Ehrfurcht, aus der Ehrfurcht die rechte Gottesfurcht.

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Ehrfürchtige Menschen aber sind beschenkte Menschen und darum fröhliche und dankbare Menschen. Und nun lasst uns hinhören auf das, was drei Häuser uns zu erzählen haben.

1. Haus: Schaut mich an! Ich bin das älteste Haus hier weit und breit, und ich existierte schon, als man diese Gemeinde gründete, die jetzt ihr 100jähriges Bestehen feiert.

2. Haus: Na, dass du recht alt bist, das brauchst du uns nicht zu erzählen, das sieht man dir von weitem an.

3. Haus: Vergleich nur eimal deine Aussenwände mit den meinen! Wie fein weiss und sauber stehe ich da, wogegen bei dir überall der Putz abbröckelt, das man die klobigen Sandsteine sehen kann.

1. Haus: Du hast recht, neues Haus, meine Wände sind alles andere als schön. Die Sandsteine wurden damals vor mehr als 100 Jahren von meinem Erbauer in mühseliger Arbeit behauen und der Putz, eine Mischung aus Sand, Kalk und Pferdehaar, bewährte sich nicht. Meine Mauern aber und die starken Balken trotzen auch heute noch jedem Sturm. Und wer von Euch beiden hat eine schönere Eingangstür als ich? Stellt euch einmal vor, unter welchen Verhältnissen sie hergestellt wurde und Staunen und Rührung erfüllen euch, dass die Menschen damals soviel Sinn und Zeit für das Schöne hatten, als sie sich im Kampf gegen den Urwald und viele Gefahren eine neue Heimat schaffen mussten. Ich sollte ihnen mehr geben als Schutz vor wilden Tieren, vor Unwetter und fremden Klimaeinflüssen; ich sollte ihr Heim sein.

2. Haus: Fremde Klimaeinflüsse? Wo kamen die Menschen denn her, die dich vor so langer Zeit erbauten?

1. Haus: Mein Erbauer, ein Zimmermann, wanderte vor Mitte des vorigen Jahrhunderts aus dem Hunsrück aus. Während der Überfahrt lernte er eine Landsmännin kennen, die mit ihren Eltern und einem Bruder nach Brasilien wollte und verlobte sich mit ihr. Nach seiner Ankunft am Pass (São Leopoldo) wurde das junge Ehepaar erst einmal für längere Zeit getrennt. Während die Frauen im Einwandererhaus in Feitoria Velha untergebracht waren, nahmen die Männer des Auswandererschubs schon den Kampf mit dem Urwald auf. Ein Teil von ihnen zog den Rio dos Sinos aufwärts, über die Mündung des Rio Santa Maria hinaus zur Kolonie Santa Maria do Mundo Novo. Diese Kolonie war im Jahre 1846 gegründet worden, als der Kaufmann Tristão Monteiro ein von der Kolonie São Leopoldo erworbenes Stück Land in Lose aufteilte, die zu 300 Milreis mit langer Zahlungsfrist verkauft wurden. Unter ihnen befand sich auch der junge Zimmermann. Eine Überschwemmung verursachte, dass er seine junge Frau erst zu sich holen konnte, als sich bereits das erste Söhnchen eingestellt hatte. Zu diesem Bübchen kamen dann im Laufe der Jahre 5 Brüder und 3 Schwestern hinzu, meine Zim- mer füllten sich mit Kinderweinen und - lachen und wurden bald zu eng, da ja die Eltern der jungen Frau und deren Bruder auch hier eingezogen waren. Mein Herr liess Hobel und Säge ruhen und arbeitete auf der Plantage. Der Bruder seiner Frau suchte die Umgebung nach Halbedelsteinen ab, die er zum Schleifen in die alte Heimat, den Hunsrück sandte, der wegen seiner Schleifereien bekannt und berühmt ist. Dann starben die alten Eltern und fanden ihre Ruhestätte auf dem Friedhof gegenüber der 1863 erbauten Kirche, wo später die Gemeinde eine Schule errichtete.

3. Haus: Du redest von einer Kolonie Santa Maria do Mundo Novo, altes Haus, soviel ich weiss, heisst jedoch dieser Ort hier Igrejinha?

2. Haus: Da kann ich dir Auskunft geben, weil der Name zu meiner Jugendzeit geändert wurde. Die neu gegründete Kolonie war eingeteilt worden in die Obere Santa Maria (Lappland), Mittlere Santa Maria (Judengasse) und Untere Santa Maria (Schlechtes Viertel). Als dann nach dem 1. Weltkrieg die Eisen- bahnlinie von Neu Hamburg nach Canela gebaut wurde, sollte dieser Ort einen neuen Namen erhalten. Man wählte den Namen “Igrejinha”, wohl weil der Kirchturm in dieser, in einem Kranz von Bergen eingebetteten Ortschaft, sofort den Blick auf sich lenkt.

3. Haus: Wenn ihr so vieles aus der Entstehung der Ortschaft wisst, dann könnt ihr doch (pág. 362) auch sicherlich aus der Gründungszeit der Evangelischen Gemeinde erzählen ?

1. Haus: Gewiss kann ich das. Habe ich es doch erlebt, wie die Einwanderer, die oft genug aus ihrer Bibel und ihrem Gesangbuch Kraft für den Kampf um‘s Leben und - nicht zu vergessengegen das Heimweh nach ihrem schönen Hunsrück schöpften, sich bald gerne zu einer Gemeinde zusammenges- chlossen hätten. Doch wo war der Seelsorger, der sie betreuen sollte? Er musste von Campo Bom oder Hamburger Berg kommen und konnte auf diese Weise seinen Dienst nur unregelmässig und selten tun. So ist es zu verstehen, dass einige Gemeindeglieder sich in ihrer näheren Umgebung einen “Pfarrer” suchten und der fand sich in einem Schneider, der zugleich Lehrer war. Er hat sich redlich bemüht, seiner Gemeinde zu dienen und ich weiss, dass er sich für seine Predigten draussen in der Plantage vorbereitete, wo er auf einem Baumstumpf stehend – zuerst den Milhostauden vortrug, was er am Sonntagmorgen seinen Gemeindegliedern predigen wollte. Er legte es nicht darauf an, den Menschen mit schweren und gewählten Sätzen zu imponieren, sondern wandte Bilder und Beispiele an, die allen vertraut waren. Als ein von Deutschland entsandter “richtiger Pfarrer” in den Bezirk Santa Maria kam, da musste der “selbstgemachte Pfarrer” nach heissem Kampf seiner Anhänger gegen die andere Partei zurücktreten. Als deutliches Zeichen seiner Amtsenthebung warf man auch das Schemelchen, auf dem er wegen seiner kleinen Statur während der Predigt zu stehen pflegte, im hohen Bogen von der Kanzel. Erst nach län- geren Jahren zogen dann — besonders durch das geschickte Vorgehen und treuen Dienst von P. Roos und P. Dietschi – allmählich wieder Eintracht und Friede in diese Gemeinde ein.

2. Haus: Na, das waren Zeiten! Sowas habe ich nicht mehr zu erleben brauchen. Ich erinnere mich nur, dass wir es schwer hatten während der beiden Weltkriege, als die deutsche Sprache verboten war und weder die Pfarrer noch die Gemeindeglieder die Landessprache ganz beherrschten.

3. Haus: Wie alt bist du denn schon, 2. Haus ?

2. Haus: Ich wurde im Jahre 1914, mit dem der erste Welt- krieg begann, erbaut. Mein Erbauer war der jüngste Sohn aus diesem ehrwürdigen Nachbarhaus. Er brach die Steine zu meinen Mauern in seinem eigenen Steinbruch. Die Bretter kaufte er in Taquara, das Dutzend zu 14 Milreis. Ich kostete mit meinen 6 grossen Räumen den heute lächerlich geringen Betrag von 1 : 35 $ 000.

3. Haus: Da habe ich aber eine ganze Stange Geld mehr gekostet, was mit der Inflation zusammenhängen mag, von der ich immer soviel reden höre. Ich bin von dem ältesten Sohn deines Erbauers, Haus 2, gebaut worden, dem wir heute alle drei gehören. Das war im Jahre 1946/47. Ich bin - wenn ich mich so mit euch beiden vergleiche – doch ein viel vornehmeres Haus! Bei mir gab es gleich eine Wasserleitung, und elektrisches Licht, wir haben ein Radio und einen Kühlschrank – já wir könnten sogar ein Fernsehgerät haben, wenn wir nur wollten. Das habt ihr alle beide doch nicht gekannt, nicht wahr? Habt ihr denn wenigstens ein wenig Freude und Vergnügen in Euren Mauern gehabt, wenn es bei euch schon keine Bequemlichkeit gab?

1. Haus: Ich habe wohl mehr Schweres als Frohes erlebt, das stimmt. Da war neben den schon erwähnten Anfangs- schwierigkeiten noch der Überfall der Maragatos (1893 – 95) zu überstehen. Ich habe es gesehen, wie man das Vieh im Wald versteckte, damit es nicht von den durchziehenden Banden mitgenommen wurde, wie die Männer einen Selbstschutz gründe- ten und draussen wachten, während die Frauen zu Hause oft ganze Nächte hindurch mit dem Jagdgewehr auf den Knien am Fenster sassen, wo sie durch einen Spalt beobachten konnten, ob sich etwa einer der Banditen näherte. Ich erlebte den Muckeraufstand, der sich beim Leonerhof (Sapiranga) abspielte. Ich sah zu, wenn Särge aus meiner Tür über die heute so ausgetretenen Stufen hinabgetragen wurden und hörte das verzweifelte Weinen der ältesten Tochter meines Herrn, als sie ihren jungen Ehegatten da unten über die Strasse zum Friedhof brachte fast ohne Hilfe und Beteiligung, da er an den gefähr-lichen Pocken gestorben war und jeder die Ansteckung fürchtete. Aber meine Bewohner und ich erlebten auch viel Freude. Die Kinder wuchsen heran, die Plantagen vergrösserten sich und brachten gute Ernte. Auch Vergnügen und Zerstreuung wusste man sich zu verschaffen. Da wurden Gesangvereine und Schützenvereine gegründet und bald entstand ein Tanzsaal, wo man sich versammeln und das Tanzbein schwingen konnte. Zwar war das Tanzen (pág. 364) erschwert dadurch, dass nicht jeder ein Paar Schuhe sein Eigen nannte und das man die Lederschlappen beim Tanzen so leicht verlor, aber man half sich, indem man die Schlappen am Fusse festband oder sie einfach an der Seite unter die Bank stellte und barfuss tanzte. Ja, ich sah, dass sie sogar die Mode mitmachten! Als die Reifröcke modern wurden und man den nötigen “Unterbau” aus Reifen und Draht nicht dazu haben konnte, fertigte man sich ein solches Gestell aus gespaltenem Bambus oder Palmreiser an. Es hatte natürlich den Nachteil, dass man es nicht zusammenlegen konnte. Da ist es denn einmal geschehen, dass ein kleines Mädchen, das sich auch auf der Tanz-fläche vergnügte, und dabei zu Fall gekommen war, unter eine dieser Glocken geriet und sich erst nach verzweifelten Anstrengungen und nachdem es den Beinen der Reifrockdame arg zugesetzt hatte, wieder ans Tageslicht steigen konnte.

2. Haus: Das sind ja ganz lustige Zeiten gewesen trotz aller Schwierigkeiten! Auch ich besinne mich auf manch harmloses Vergnügen in meinen Wänden und um mich herum. Fünf junge Menschen bewohnten mich mit ihren Eltern, sie haben schwer arbeiten müssen, aber auch manchen Scherz und Schabernack mit ihren Freunden getrieben. Da wurden sämtliche Tore ausgehängt des Nachts und an ganz anderen Stellen, wo sie gar nicht hinpassten, wieder angebracht, oder der Wagen eines Kolonisten wurde bis zur nächsten Schmiede geschoben, wo der Schmied ihn am Morgen zu seinem Erstaunen vorfand und trotz eifrigen Suchens und Klopfens keinen Fehler entdecken konnte. Die Burschen gingen zum Fischfang oder auf die Jagd und die Mädchen trafen sich zum Handarbeiten und Erzählen und rieben sich vor einem Ball die Wangen mit rauhen Feigenblättern, dass sie schön rot wurden. Man kannte keine Hetze. Es gab keine Autounfälle, keine Flugzeuge dröhnten über unseren Köpfen und kein Radiolärm aus den Häusern. Dafür hatte man aber Zeit, sich am Abend vor der Haustür zusammenzusetzen und zu singen. Ich glaube, dass weder heute noch vor hundert Jahren die Zeiten besser waren als in meiner Jugendzeit.

1. Haus: O, auch meine Jugendzeit war schön, gerade weil sie so schwer war.

3. Haus: Ihr könnt mir sagen, was ihr wollt: schöner als jetzt waren sie nicht! Schon allein, weil alles so modern und so bequem ist jetzt. Alles geht elektrisch, man braucht sich nicht anzustrengen. Die Entfernungen sind zusammengeschmolzen, seit man mit dem Flugzeug reisen kann – ja, in wenigen Jahren werden die Menschen auf den Mond fliegen können. Durch das Fernsehen haben wir Kino zu Hause, Konzert durch unseren Plattenspieler und den Gottesdienst hören wir uns durchs Radio an. Der Mensch beherrscht alles und kann alles, und er schafft auch seine Häuser immer vollkommener und vornehmer.

1. Haus: Mein liebes junges Haus, du sprichst wie du es verstehst in deiner Unerfahrenheit! Wenn man soviel erlebt und gesehen hat wie ich, dann weiss man, dass der Mensch auch heute noch nicht alles kann und alles beherrscht, dass er auch keine besseren Zeiten schaffen kann. Was hat er denn gewonnen durch seine Erfindungen? Hat er etwa mehr Zeit, seitdem alles elektrisch betrieben wird? Ist denn der Mensch glücklicher geworden durch seine Erfindungen? Vernichtet er im Kriege nicht tausende der schönen Häuser wieder, die er gebaut? Und was nützt es ihm, zum Mond zu gelangen, solange er mit den Problemen auf unserer Erde nicht fertig werden kann? Jedes Jahr- hundert birgt Schönes und Schweres in sich, bringt gute und böse Menschen hervor, ist ein Werden und Vergehen. Gut und vollkommen, allmächtig und allwissend ist allein der Herr der Zeit, der ewige Gott, der die Welt geschaffen hat. Der Mensch sollte sich Gottes Schöpfung zunutze machen und sich daran freuen, sein Fehler ist, dass er sie korrigieren will.

Aber nun lasst uns unser Gespräch beenden, denn unsere Bewohner wollen sich zur Ruhe begeben. Wir aber wollen über ihrem Schlaf wachen und unseren Zweck erfüllen, indem wir ihnen Tag und Nacht die Geborgenheit geben, aus der sie Kraft zum Lebenskampf schöpfen.

C. Koetz